Zwischen Trauerflor und Federboa. Eine Reflexion.

(von Tarek Shukrallah)
Wenn wir über AIDS in den 90er Jahren sprechen, kommen wir nicht umhin uns mit Trauer und Kulturen des Trauerns innerhalb unserer Communities auseinanderzusetzen. Die AIDS-Krise hat aus der Vereinzelung der Erfahrung von Tod und Sterben in der eigenen sozialen Umwelt eine kollektive Erfahrung der Schwulen gemacht, die bis zum heutigen Tage das Bild unserer Szenen wesentlich prägt. Sie hat die Communities damit konfrontiert, dass die soziale Akzeptanz ihrer Lebenswirklichkeiten durch die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft auf einem brüchigen Fundament steht. Einem, das jederzeit zu erodieren droht.

Neben dem großen Sterben selbst, erlebten viele der Überlebenden wie das Andenken ihrer Freunde, Partner und Mitkämpfer mit Gewalt dem entrissen wurde, was einst das Coming-Out markieren sollte: Einer selbstbewussten und selbstbemächtigten schwulen Identität.

Es gibt unzählige Geschichten von emanzipierten Polittunten, engagierten Communityworkern und bekannten Szenegrößen, die posthum ihrer Lebensgeschichten entrissen wurden; deren Coming-Out- und Städte-Migrationsgeschichten mit dem Eintritt des Todes durch die eigene Verwandtschaft für nichtig erklärt wurden. Mit diesem Trauma mussten und müssen viele Hinterbliebene auch bis heute leben und umgehen. Oft erlebten sie, dass sie von den Beerdigungen ihrer engsten Freunde und Liebhaber durch deren Familien ausgeschlossen wurden. Sie erlebten, wie die Familien der Toten mit Zwang ein Bild ihrer an AIDS verstorbenen Angehörigen zu zeichnen versuchten, das dem Leben derselben nicht im geringsten Sinne entsprach.

Bernd Aretz, ehemaliges Mitglied des Nationalen AIDS-Beirats, Ehrenmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. und Träger des Medienpreises der Deutschen AIDS-Stiftung, sprach am vergangenen Montag, den 4. Dezember 2017, als Aktivist und Chronist der ersten Stunde über seine Erfahrungen im Umgang der Schwulen mit dem Tod während der AIDS-Krise, aber auch über alternative Ansätze einer Trauerkultur, die die Autonomie der Verstorbenen wahren, und eine posthume Negierung von ihrer (selbst gewählten) Lebenswirklichkeit vermeiden. In seinem sehr persönlichen Vortrag schilderte Bernd Aretz dabei auch eigene Erfahrungen von Verlust, von Verletzungen, und nicht zuletzt von Handlungsansätzen, im Umgang mit der Erfahrung von Tod.

Die Veranstaltung mit dem Titel „Zwischen Trauerflor und Federboa. Das große Sterben schwuler Männer und drogengebrauchender Menschen um 1990.“ wurde anlässlich des 30-jährigen Bestehens der AIDS-Hilfe Marburg e.V. als Kooperation des Autonomen Schwulenreferates im AStA Marburg und des Gleichberechtigungsreferates der Universitätsstadt Marburg organisiert. Die Veranstaltung wurde durch HESSEN IST GEIL! und die AIDS-Hilfe Marburg e.V. unterstützt. Rund fünfzig Besucher*innen hörten dem knapp einstündigen Vortrag des ehemaligen Marburger Juristen und Notar im Historischen Rathaussaal der Stadt Marburg zu und beteiligten sich im Anschluss an einer lebhaften Diskussion.

„Zwischen Trauerflor und Federboa“ war dabei auch nicht zuletzt durch die präsidiale Atmosphäre des prunkvollen Rathaussaals das Motto des Abends. Den Auftakt der Veranstaltung machte das Lied „Vergessen“, der an den Folgen ihrer AIDS-Erkrankung am 8. September 1993 verstorbenen Westberliner Soul- und Trümmertunte Melitta Sundström. Melitta kritisiert in dem Lied auf eindrückliche und zugleich charmante Weise die Verdrängung der AIDS-Krise durch viele Schwule.

Melitta selbst wurde von ihrer Familie unter bürgerlichem Namen in der Heimat ihrer Herkunftsfamilie bestattet. Einige Figuren der Schwulenbewegung fanden, wie einige andere wichtige Figuren die sich jenseits der weißen heterosexuellen Norm bewegten, auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin ihre letzte Ruhe. Aretz selbst plant mit einigen anderen Figuren der Schwulenbewegung, darunter etwa dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker, in eine „Grab-WG“ auf diesem Friedhof zu ziehen. Für das Recht der Nutzung der historischen Grabstätte hat die Gruppe sich dazu verpflichten lassen, diese zu restaurieren und in Stand zu halten. Es handelt sich um das Grab einer Tuchmacherfamilie, die in den 1850er-Jahren verstorben ist. Sie liegen damit in unmittelbarer Nähe zu den Gebrüdern Grimm, Rio Reiser, Ovo Maltine, Manfred Salzgeber, May Ayim und anderen wichtigen Figuren unserer Communities.

Orte der Erinnerung waren ein wesentliches Thema des Abends. Für viele Hinterbliebene während der AIDS-Krise, insbesondere im Fall von unter mittellosen Bedingungen verstorbenen Drogengebraucher*innen, fehlten über lange Zeit Orte der Erinnerung. Um dem Abhilfe zu beschaffen, sorgte die Schwulenbewegung beispielhaft dafür, dass die Grabstätte von Karl-Heinrich Ulrichs aus gespendeten Mitteln saniert werden konnte. Sie ist seither Pilgerort von Schwulen aller Welt, um dem „ersten Homosexuellen“ zu gedenken. Später ist das Projekt „Namen und Steine“ des Künstlers Tom Fecht entstanden. Es soll jene sichtbar machen, die von der Gesellschaft im Leben wie im Tod marginalisiert und unsichtbar gemacht wurden und werden, und jenen Raum geben, denen adäquate Orte zur Erinnerung an ihre Lieben genommen sind oder nie gegeben wurden. Teile der Installation finden sich auch in Gießen und in Kassel.

Die abschließende Diskussion ermutigte dazu, über eigene Wüsche und Bedürfnisse bezogen auf den Umgang und das Verhältnis zum Tod zu reflektieren. Aretz zufolge gibt es eine Vielzahl alternativer, subversiver und bunter Ansätze einer Trauerkultur die emanzipatorischen Ansprüchen genügen kann. Man darf sich nicht davon abhalten lassen, sie zu leben.

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