Review: MIMICRY

Liebe Jenny, 

Du hast gerade mit MIMICRY in Frankfurt die Premiere gefeiert. Der Film erzählt die Selbstfindungsreise eines Girlfags, also einer jungen Frau, die sich als schwuler Mann fühlt. Wie waren die Reaktionen auf den Film?

JENNY: Die Premiere mit „HESSEN IST GEIL!“ im Mal Sehn Kino lief außerordentlich gut. Ich hatte im Vorhinein etwas Angst, dass sich keiner für das Thema interessieren würde und die Diskussion nach dem Film schnell ins Stocken geraten könnte. Aber es war genauso wie ich es mir gewünscht habe: Die Leute waren offen, stellten interessante Fragen und nahmen rege an der Diskussion teil. Ich fühlte mich in meinem Element. Der Film kam bei allen gut an und wir wurden mehrfach für unsere Arbeit gelobt. Im Gegensatz zu den Reaktionen bei Queer.de oder der Frankfurter Rundschau habe ich mich dort sehr wohl unter den Menschen gefühlt. Ich habe weder Hass, noch Missgunst oder Intoleranz gespürt. Es war ein Raum voller Menschen auf einer Wellenlänge.

Wie kam es zu der Story?

JENNY: MimiCry basiert lose auf der eigenen Entdeckung meiner Sexualität, wobei ich natürlich bestimmte Lebenserfahrungen in Bildern und Szenen paraphrasiere. Schon mit 10 Jahren, als ich meine ersten sexuellen Gedanken bekam, wusste ich, dass ich in mir  drin ein schwuler Mann bin. So konkret habe ich das natürlich früher nie gedacht und es war mir auch sehr peinlich mich zu outen – bis ich vor einigen Jahren durch Queer-Recherche auf den Begriff Girlfag kam. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Es gibt Menschen, die sich so fühlen wie ich! Ich bin kein Sonderling. Da ich zu der Zeit ohnehin an meinem nächsten Kurzfilm arbeitete und ich unbedingt meine queeren Gefühle und Gedanken verfilmen wollte, wusste ich in dem Moment: Das ist der Film, den du drehen willst! 

Bei der Premiere waren Paula, ein Girlfag und Aktivistin aus Berlin, und Freya, die im Film Mimi spielt, dabei. Im Anschluss an den Film habt ihr mit dem Publikum über Mimi, Girlfags und Guydykes gesprochen. Wie war das für Euch?

JENNY: Eine der schönsten Gespräche mit so vielen schönen offenen Menschen in einem Raum, dass ich je hatte. Die Athmosphäre war einmalig und das erste Mal, seit ich den Film gedreht habe, hatte ich das Gefühl, dass er dort angekommen ist, wo ich damit hin wollte.

PAULA: Ich fand es sehr angenehm. Ich war aufgeregt, weil es das erste mal für mich war in der Öffentlichkeit sichtbar als Girlfag aufzutreten und all den möglichen Vorurteilen und Fragen ausgesetzt zu sein – doch das Publikum war sehr aufgeschlossen und die Fragen waren wohlwollend, neugierig und gar nicht vorurteilsbehaftet!

FREYA: Das Screening des Films, sowie das Gespräch danach, waren sehr angenehm, da das Publikum wirklich sehr offen und interessiert war.

Du hast als heterosexuelle Frau ein Girlfag gespielt. Wie hast Du Dich auf die Rolle vorbereitet und was hat Dir geholfen dich in diese Rolle hineinzuversetzen?

FREYA: Es war tatsächlich etwas schwierig sich auf diese Rolle vorzubereiten. Es gab nämlich kaum Informationsquellen zu dem Thema und die die es gab konnten mir das Thema nicht so näher bringen, wie ich es gebraucht hätte. Doch irgendwann hat Jenny einen Zeitungsartikel in der NEON gefunden, der von einem Girlfag geschrieben wurde und der ihre Gefühlswelt so gut und nachvollziehbar beschrieben hat, dass ich die Rolle endlich verstehen konnte.

Das ist der Link: http://www.neon.de/artikel/fuehlen/psychologie/ich-bin-etwas-was-es-gar-nicht-gibt-oder-doch/1123260

Als Aktivistin und Girlfag betrachtest Du den Film nochmal aus einer anderen Perspektive als der Großteil der anderen Zuschauer. Ist Mimis Geschichte eine „klassische“ Selbsterfahrungsdokumentation in diesem Spektrum? Wie war es bei Dir?

PAULA: Definitiv! Was der Film sehr gut gezeigt hat, ist die Verwirrung und Sprachlosigkeit von Mimi.
Sehr spät erst traut sie sich auszusprechen, dass sie eine schwule Frau ist.

Ich glaube, dass ich es auch schon viel länger gewusst habe, allerdings keine Sprache dafür hatte und allein die Idee kam mir albern vor. Als ich es endlich ausgesprochen habe, hat das vieles ins Rollen gebracht: Ich habe andere Girlfags gefunden, mich viel mehr mit Sexualität und Geschlecht beschäftigt und einige Erfahrungen aus der Vergangenheit ergaben endlich Sinn!

Auch die Phase des Gender-Questionings, als sich Mimi die Haare abschneidet und die Brüste abbindet, machen viele Girlfags durch – meist weniger drastisch als im Film dargestellt. Einige stellen dadurch fest, dass sie genderqueer oder trans sind, andere, dass sie cis-weiblich sind und gern maskulin auftreten wollen, wieder andere, dass sie lieber feminin auftreten usw.
Ich hab diese Phase auch schon durchgemacht und verschiedene Gender-Performances ausprobiert.

Jenny, Du offenbarst mit dem Film sehr viel Intimes aus deinem Leben und Du gibst dem Ganzen ein Gesicht und den Körper, Freya. Wie fühlt sich das an solche Einblicke zu gewähren?

FREYA: Ich bin ein sehr offener Mensch und habe daher kein Problem damit intime Einblicke zu gewähren. Aber ich habe ohnehin nicht das Gefühl viel Intimes von mir preisgegeben zu haben, da ich in dem Film nicht mich sehe, sondern Mimi. Es gibt immer eine klare Abgrenzung zu meinen Rollen.

JENNY: Ich bin generell ein sexuell-offener Mensch, aber natürlich habe ich am Anfang etwas Angst gehabt mich so durchlässig zu zeigen, oder dass meine Offenheit bezüglich meiner Sexualität bzw. Individualität mir irgendwann zum Verhängnis wird. Als über das Internet dann blöde Kommentare zum ersten Artikel in der Frankfurter Rundschau kamen, hatte ich schon ein schlechtes Gefühl. Ich erhielt dann aber auch viele Nachrichten von Menschen, die sich bei mir bedankten, die zum Teil genau dieselben Erfahrungen machten, wie ich damals, als mir der Begriff Girlfag unterkam. Viele schrieben mir: „Endlich weiß ich was ich bin, dank Dir!“. Spätestens da war die Angst wie weggeblasen. Ich denke, der Mut sich nackt zu machen mit seiner Kunst, ist das elementare und wichtigste Stilmittel des Films – und ohne dieses Element hätte der Film nicht funktioniert. Da ich als Regisseurin und Drehbuchautorin generell nur Material verarbeite, dass ich auch bedienen kann, heißt: meine individuelle Sichtweise der Dinge in Bilder verpacke, wusste ich, die Story muss nah an meiner eigenen sexuellen Selbstfindung sein. Nur so kann ich Verständnis bei Nichtwissenden erzeugen und auch authentisch über Girlfags informieren und so Vorurteile abbauen.

Wie hat deine Umwelt auf den Film reagiert und auf das Thema des Films?

FREYA: Die Menschen, denen ich von dem Film erzählt habe, waren anfangs meistens irritiert, da sie nicht verstanden haben, was eine schwule Frau sein soll. Aber sie waren gleichzeitig auch sehr offen und interessiert und haben nach einer kurzen Aufklärung das Thema verstanden und waren sehr gespannt auf den Film.

Der Film zeigt deutlich den Kampf, den Mimi mit sich ausmacht. Wie geht’s Dir heute, wenn Du diese Szenen siehst?

JENNY: Heute stehe ich an dem Punkt, wo ich viel ausprobiert habe und weiß, was ich nicht will. Ich fühle mich natürlich zurück erinnert an eine harte und qualvolle Zeit, aber auch an schöne Ereignisse. Für mich ist es auch die beste Verarbeitung meines Lebens und wie mich Leute teilweise behandelt haben: Der Raver im Film, der Mimi nach einem One-Night-Stand ablehnt, steht für mich für alle Männer in meinem Leben, die mich gefickt und weggeschmissen haben. Henri, der bezaubernde schwule Mann (perfekt gespielt von Maximilian Gehrlinger) symbolisiert alle schwulen Männer in meinem Leben, in die ich mich unglücklich verliebt habe. Doch so wie ich, findet Mimi am Ende nicht den perfekten Partner, denn das wäre keine Lösung für ihren inneren Konflikt. Mimi findet etwas viel Wichtigeres am Ende des Films und genau so geht es mir heute. 

Ich habe mich selbst gefunden und weiß jetzt, dass ein/e Partner/in oder mehrere Partner/innen nur noch ein Bonus in meinem schönen Leben wären und nicht mehr, wie ich lange geglaubt habe, die Erlösung meines Leidens.

Gerade in den „sozialen“ Medien gab es immer wieder ziemlich heftige Kommentare, wenn es um den Film und das Phänomen Girlfags ging. Wie geht ihr mit solchen Kommentaren um? Und welche Angebote gibt’s für Menschen, die Hilfe und Austausch suchen? 

JENNY: Ich versuche mich hauptsächlich auf die positiven Kommentare und Nachrichten zu konzentrieren. Ich sage mir immer wieder, dass Toleranz zwar in meinem Weltbild ein Muss darstellt, aber andere Leute das im Leben vielleicht nicht so erfahren haben, bzw. noch nicht an dem Punkt sind, an dem ich jetzt bin. Die Anonymität des Internets hilft diesen hasserfüllten Menschen natürlich, denn im echten Leben hat mich noch nie jemand so hart angegriffen, wie in den sozialen Netzwerken. Daher versuche ich mich wirklich von den negativen Kommentaren der Medien zu distanzieren und mich im echten Leben nur mit Menschen zu umgeben, die offen, tolerant und verständnisvoll, einfach lieb sind.

PAULA: Weil mich diese Kommentare sehr runterziehen, lese ich sie gar nicht erst. Wenn mich so etwas dennoch erreicht, verweise ich auf die „Frequently Asked Questions“-Seite auf https://girlfags.jimdo.com/faq-ger/ und hoffe, dass die Kommentator*innen bereit sind über ihren Tellerrand zu schauen.
Wer Hilfe und Austausch sucht, wird im Internet fündig werden: Es gibt ein Forum für Girlfags und Guydykes(http://girlfag-guydyke.forumieren.com/forum) und zwei Facebook-Gruppen (https://www.facebook.com/groups/810293155734203/?ref=bookmarks

). Ich leite den regelmäßigen Stammtisch in Berlin (https://girlfags.jimdo.com/stammtische-regulars-table/) und berate auch gern unter vier Augen. In anderen Städten finden auch gelegentlich Treffen statt: Die Infos dazu stehen im Forum. Ich weiß außerdem, dass die Berliner Schwulenberatung dem Thema gegenüber aufgeschlossen ist und beraten kann.

Der Film löst klassische Mann-Frau, hetero-schwul und sogar cis-trans Binärmodelle auf und öffnet das Spektrum von Identitäten und sexuellem Begehren für neue Dimensionen. Was bedeutet das für Dich?

JENNY: MimiCry und ich möchten das klassische Schubladen-Denken auflösen. Ich sehe unser sexuelles Begehren und unsere sexuelle Identität mehr wie einen Regenbogen, als wie verklemmte Schubladen. Der Regenbogen hat viele Farben, also genauer gesagt: Spektren. Da jeder von uns sich einem Spektrum näher fühlt, können wir uns einigen, dass wir alle ziemlich unterschiedlich sind in unserem Sein und Begehren, somit die passformen verschlossenen Schubladen nicht ausreichen. Ein Regenbogen dagegen ist nur dann ein Regenbogen, wenn alle Spektren, alle Farben zusammenspielen und leuchten.

FREYA: Als ich angefangen habe mich mit dem Thema auseinander zu setzen war ich schnell davon genervt, dass jeder seine eigene Schublade haben will. Aber ich konnte relativ schnell nachvollziehen, dass jeder seine eigene Schublade haben will, da wir leider in einer Schubladen Gesellschaft leben und daher jeder eine passende Schublade braucht, um sich zugehörig und nicht verloren zu fühlen. Für mich ist es eine schöne Vorstellung, dass es irgendwann keine Schubladen mehr gibt und einfach jeder Mensch leben und lieben kann und darf, wie er will. 

PAULA: Für mich klingt das nach der Definition von „queer“, die ich am liebsten mag: Als Sammelbegriff für alle Begehrensformen, Geschlechter und sexuellen Minderheiten, die aus der cis-heteronormativen Vorstellung herausfallen: Das ist ein riesiges Spektrum, wo auch Platz für Girlfags ist!

Für mich als bisexuelle, cisgenderfluide Girlfag, die immer zwischen den Stühlen steht, fühlt sich diese Öffnung des Spektrums sehr gut und richtig an.

Sexuelles Begehren wird in der Wissenschaft oft als nicht-statisch beschrieben, ein Mensch kann also mal mehr Männer und mal mehr Frauen begehren. Glaubst Du, dass auch die Identität etwas Bewegliches/Fluides ist, oder sein kann?

PAULA: Ich finde gerade Identität ist etwas bewegliches, da sie viel mit der eigenen Selbstfindung und Zugehörigkeit zu tun hat. Es gibt z. B. sehr viele Menschen, die mehr als ein Geschlecht begehren, aber nicht alle nutzen die Bezeichnung „bisexuell“ für sich – das hat verschiedene Gründe, wie z.B. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, queeren Szene, weil man seit vielen Jahren in einer Homo- oder Heterobeziehung lebt, weil sich ein anderer Begriff richtiger anfühlt oder oder oder. Sexuelle Identität ist also nichts objektives, sondern unterliegt neben der Zuschreibung von außen auch Selbstfindungsprozessen. Entsprechend bin ich davon überzeugt, dass sich Identität im Laufe des Lebens verändern kann und auch darf.

Ein Abschluss-Statement: Was ratet ihr Menschen, die feststellen, dass sie nicht der heteronormativen, gesellschaftlichen Norm entsprechen?

PAULA: Mach dir bewusst, dass du nicht allein bist – egal, wie allein du dich gerade fühlst. Such den Austausch zu Menschen, denen du vertraust und Queers im Internet. Wenn möglich, nutze deine lokalen Supportstrukturen und vor allem: Lass dich nicht hetzen, denn du weißt selbst am besten, ob, wann und wie du dich outen willst bzw. kannst. Und egal, was dir andere einreden:
Du bist (queer) genug und verdienst Liebe und Wertschätzung!

FREYA: Sich geduldig und reflektiert selbst kennen und lieben zu lernen und sich negative äußere Einflüsse nicht zu Herzen zu nehmen. Und für sich selbst zu kämpfen und für sich einzustehen. Auch wenn es klischeehaft klingt, aber das ist meiner Meinung nach, worauf es wirklich ankommt. 

JENNY: Gesellschaftliche Normen, sind wie der Name schon sagt, von einer Gesellschaft genormt und können somit auch von einer modernen Gesellschaft neugestaltet werden. Das ist im Laufe der Menschheit schon immer so gewesen und es ist an unserer Generation, dass wir zu erkennen geben, dass es einfach keine Norm mehr gibt!

Liebe Paula. liebe Freya und liebe Jenny, vielen Dank für diese Einblicke und den wunderbaren Film. 

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