Der Blutspendeausschluss schwuler Männer ist falsch – die aktuelle Kritik daran jedoch auch

Schwule und auch alle anderen Männer, die Sex mit Männern haben, inklusive deren Partner*innen sowie Trans*Personen, Menschen in Haft, Drogenkonsumierende und weitere Gruppen sind in Deutschland von der Blutspende ausgeschlossen. Aktuell wird darüber wieder intensiv und emotional diskutiert – in der Community und auch im Bundestag.

Am Abend des 27. Mai 2020 debattierte der Bundestag über zwei Anträge der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen1 und FDP2 zum Ausschluss schwuler und bisexueller Männer sowie von Trans*Personen von der Blutspende. In ihren Anträgen fordern die beiden Fraktionen jeweils die Aufhebung des pauschalen Verbots. Es solle künftig nicht mehr nach sexueller oder geschlechtlicher Identität entschieden werden, sondern nach individuellem Risikoverhalten. Wer beispielsweise monogam lebe, solle spenden dürfen. „Allein das individuelle Risikoverhalten“ (Antrag Grüne) solle als Kriterium in Frage kommen; die FDP fordert, Risikoverhalten explizit „durch ungeschützten Sexualverkehr mit häufig wechselnden Partnern/innen“ als Ausschlusskriterium zu definieren

Das richtige und wichtige Ziel beider Anträge ist es, den pauschalen Ausschluss von Männern, die Sex mit Männern haben (MSM*; da die Statistiken Trans*Männer nicht abbilden, wird im Folgenden bei der Bezeichnung MSM auf das * verzichtet) sowie Trans*Personen aufzuheben und die damit verbundene Diskriminierung endlich zu beenden. Einigkeit besteht auch im übergeordneten Ziel, die Sicherheit der Empfänger*innen von Blutspenden und Blutprodukten zu gewährleisten.

Die Community steht ebenfalls hinter diesem Vorhaben. Führen wir dazu aber die richtigen Argumente ins Feld? Und wie ist es um unsere Solidarität bestellt, wenn es darum geht, auch den Ausschluss der anderen Gruppen zu beenden und so für alle eine gerechtere Regelung zu erstreiten?

Dieser Text soll Fakten zur Versachlichung dieser hochemotionalen Diskussion liefern und überdies deutlich machen, dass ein pauschaler Blutspendeausschluss von MSM längst überholt ist. Dazu ist es notwendig, ausführlicher auf die Hintergründe einzugehen, als das in vielen Veröffentlichungen möglich ist. Die verwendeten Quellen sind im Text markiert und als Verzeichnis im Anhang aufgeführt.

Aus fachlichen Gründen widme ich mich in diesem Artikel nicht auch den anderen ausgeschlossenen Gruppen, weil mir hier schlicht die Expertise fehlt. Dennoch sollten wir uns fragen und darüber diskutieren, wie viel Diskriminierung und Vorurteile gegenüber diesen Gruppen einerseits im Ausschluss steckt, aber andererseits auch in unseren eigenen Argumentationen. Wie viel Angst, Abgrenzung und Stigmatisierung wird hier beispielsweise auch gegenüber von HIV-Positiven und promiskuitiven Schwulen erkennbar? Es ist in solchen Diskursen immer wieder festzustellen, dass Gruppen gegeneinander ausgespielt und gleichermaßen stigmatisiert werden. Prostituierten wird beispielsweise unverantwortliches Verhalten vorgeworfen. Dieses Stigma wird nun auf Trans*Personen übertragen, denen zugeschrieben wird, häufiger Sexarbeiter*innen zu sein. Dieses Hin- und Herschieben von Vorurteilen und Diskriminierung muss endlich aufhören.

Forderungen an den Gesetzgeber
Zugunsten der Verständlichkeit sind zentrale Forderungen vorangestellt, die Erläuterungen folgen im weiteren Text.

Diskriminierung beenden und schwule Männer und andere Gruppen zur Blutspende zulassen!
Nach 9,7 Tagen kann eine HIV-Infektion festgestellt werden. Was über eine Rückstellung von mehr als vier Wochen oder Kontrolltestung nach zwei Wochen hinausgeht, ist nicht zu begründen.

Wissenschaftliche und technische Möglichkeiten nutzen: Verpflichtende Einzeltestung jeder Blutspende! Um sowohl ein Maximum an Sicherheit als auch ein Minimum an Ausschluss zu erreichen, muss die Einzeltestung von Blutspenden verpflichtend sein.

Transparenz schaffen!
Blutspendedienste müssen zur Transparenz bei der Testung, Verwendung und dem Verkauf von Blutspenden verpflichtet werden.

Ausgangslage des Ausschlusses
Trotz der Einführung eines verbindlichen HIV-Tests für Spender*innen 1985 wurden bis 1993 fast die Hälfte der wegen Hämophilie (Bluterkrankheit) mit Blutprodukten behandelten Personen mit HIV infiziert. Das fand der im gleichen Jahr einberufene Untersuchungsausschuss des Bundestags heraus.

Die Bundesregierung war gezwungen, auf den Blutspende-Skandal zu reagieren. Obwohl das Bundesgesundheitsblatt bereits 1982 vor Übertragungen durch Blutprodukte warnte, schätzte das Bundesgesundheitsamt das Infektionsrisiko auch Ende 1983 weiterhin als gering ein und ignorierte die Proteste von Patientenvertreter*innen. Der 1993 eingesetzte Untersuchungsausschuss im Bundestag stellte in seinem Abschlussbericht fest, dass rund 60 Prozent der durch kontaminierte Blutprodukte ausgelösten HIV-Infektionen hätten verhindert werden können3. Als Reaktion auf die Versäumnisse wurde der Präsident des Bundesgesundheitsamtes (BGA) vom damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer entlassen und schließlich das BGA aufgelöst. Obwohl in Deutschland Risikogruppen bereits von der Spende ausgeschlossen waren, wurden weiterhin fast alle Blutprodukte für Blutererkrankte aus den USA importiert4. Ein bereits Ende der 70er-Jahre entwickeltes Verfahren zur Inaktivierung von Viren wurde in Deutschland erst 1984/85 flächendeckend eingeführt.

Dieses politische Versagen kostete bis Mitte 1994 600 Menschen das Leben.

1998 wurden deshalb das Transfusionsgesetz und die Hämotherapie-Richtlinie verabschiedet. Darin wurden unter anderem „Personen, deren Sexualverhalten oder Lebensumstände ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhtes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten bergen“ als Risikogruppen definiert. Gemeint sind dort ausdrücklich „homo- und bisexuelle Männer, Drogenabhängige, männliche und weibliche Prostituierte, Häftlinge“5.

Pauschalausschluss aufgrund eines erhöhten HIV-Risikos
Das übergeordnete Ziel aller Überlegungen und Forderungen muss die maximale Sicherheit der Empfänger*innen von Blutprodukten bei minimaler Einschränkung möglicher Spender*innen sein. Immer wieder wird deshalb als durchschlagendes Argument für einen Blutspendeausschluss ins Feld geführt, dass Schwule und andere MSM erheblich stärker von HIV betroffen sind als andere Gruppen. Diese Tatsache ist auch anzuerkennen. Die Ursache hierfür liegt allerdings nicht in einem „Risikoverhalten“ von MSM, sondern in der Mathematik, Biologie und Epidemiologie von HIV. Ein wichtiger Kritikpunkt an der Berechnung der Wahrscheinlichkeiten ist die Vereinfachung. Die Gesellschaft ist vielfältiger und komplexer, als Rechenmodelle abbilden können. Die Einteilung in Hetero- und Homosexuelle kann dementsprechend die Lebensrealität nicht ausreichend abbilden.

HIV-Infektionsdynamik und Übertragungswahrscheinlichkeiten
Die Statistiken zu Infektionswahrscheinlichkeiten von HIV spiegeln die gesellschaftliche Realität im Jahr 2020 nur unzureichend und eindimensional wider. Die Gesellschaft ist diverser, als die Zahlen sie darstellen. Die Realität von Trans*Personen geht darin völlig unter. Letztendlich kann man Übertragungswahrscheinlichkeiten darauf reduzieren, wie der Virus in den Körper gelangt, oder auf welche Schleimhaut Sperma beim Sex trifft – ganz unabhängig von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität. Da die Statistiken aber hierzu keine ausreichende Grundlage bieten, muss ich in diesem Text auf der Grundlage der vorliegenden Daten argumentieren und kritisiere das Nicht-Mitdenken der gesellschaftlichen Vielfalt ausdrücklich.

Aus mehreren Studien lassen sich die einzelnen statistischen Übertragungswahrscheinlichkeiten nach Infektionsweg sehr gut einschätzen. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion durch eine Bluttransfusion liegt wie zu erwarten sehr hoch: bei über 90 Prozent.

Der Hauptübertragungsweg von HIV in Deutschland und Europa ist ungeschützter, aufnehmender Analverkehr. „Ungeschützt‟ bedeutet, dass keine der möglichen Schutz-Methoden6 genutzt wurde: Kondom, Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP) und Schutz durch Therapie7. „Aufnehmend‟ meint, dass der Verkehr mit Ejakulation im Anus erfolgt. Dennoch kommt es statistisch nur in 1,4 Prozent der Sexualkontakte mit einem HIV-positiven Partner zu einer HIV-Infektion8. Kommt es beim Analverkehr nicht zur Ejakulation, sinkt die Anzahl der Infektionen bereits auf 0,1 Prozent ab. Beim Vaginalverkehr sind es 0,08 beziehungsweise 0,04 Prozent, was bedeutet, dass die Darmschleimhaut durch ihre Beschaffenheit eine etwa 20-fach leichtere Infektion als die Vaginalschleimhaut ermöglicht. Beim Oralverkehr besteht praktisch kein Risiko mehr (0,008/0,004 %).

Bei Analverkehr unter Männern sind demnach Infektionen in beide Richtungen gleichermaßen wahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung von Frau zu Mann ist nochmal um die Hälfte niedriger als von Mann zu Frau.

In Europa sind besonders Männer, die Sex mit anderen Männern haben, von HIV betroffen. Um diese vielfach höhere Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion zu verstehen, muss man sich einerseits die Infektionswege und andererseits die unterschiedlichen Eigenschaften sexueller Netzwerke genauer ansehen. Dann wird schnell klar, dass dieser Umstand nicht aus dem (individuellen) Sexualverhalten resultiert, sondern auf die Infektionswege von HIV und die Beschaffenheit der Darmschleimhaut zurückzuführen ist.

Schleimhäute haben unter anderem die Funktion, Erreger abzuwehren und den Körper vor Infektionen zu schützen. Da im Darm Nährstoffe und Flüssigkeit aufgenommen werden, ist diese Schleimhaut keine abwehrende Schleimhaut. Um dennoch Erreger fernhalten zu können, sitzen in der Oberfläche der Darmschleimhaut zahlreiche Immunzellen. Diese Zellen besitzen, wie die bekannten (T-)Helferzellen, einen Oberflächenrezeptor, den das Virus nutzt, um in den Körper einzudringen. Die Darmschleimhaut bietet dem Virus also eine einfache Möglichkeit, in den Körper einzudringen. Aus diesem Grund ist Analverkehr der häufigste sexuelle Übertragungsweg.

Selbstverständlich haben auch Heteros Analverkehr. Umgekehrt haben aber auch nicht alle Schwulen Analverkehr. Warum sich HIV aber unter schwulen Männern so viel stärker ausbreiten konnte, wird beim Blick auf die sexuellen Übertragungswege, Wahrscheinlichkeiten und die Prävalenzen deutlich. Schwule Netzwerke sind viel kompakter und die Infektionen sind grundsätzlich in beide Richtungen gleich wahrscheinlich. In einer viel kleineren Gruppe ist also deutlich mehr Virus vorhanden und sowohl die Übertragungsmöglichkeiten als auch die Wahrscheinlichkeit ist höher.

Vergleicht man als Beispiel zwei Gruppen von sechs Personen (drei Frauen und drei Männer beziehungsweise sechs Männer), dann haben Heterosexuelle jeweils drei Optionen für infektionsrelevante Sexualkontakte. MSM stehen dagegen fünf mögliche Sexualpartner zur Verfügung. Daraus ergeben sich insgesamt neun mögliche Kontakte bei Heterosexuellen und 30 bei Sex zwischen Männern, bei denen es zu Übertragungen von HIV kommen kann. In Kombination mit der im Vergleich zur Vaginalschleimhaut 20-fach höheren Infektionswahrscheinlichkeit der Darmschleimhaut ist nicht verwunderlich, warum es zu so einer überproportional stärkeren Infektionsdynamik bei schwulen Männern und MSM kommt.

Da die Übertragungswahrscheinlichkeit von Frau zu Mann viel geringer ist (0,04 %), kann dieser Übertragungsweg im Vergleich von hetero- und homosexuellen Kontakten vernachlässigt werden9.

HIV-Prävalenzen Die Prävalenz beschreibt den prozentualen Anteil Infizierter innerhalb einer Gruppe. Ende 2018 lebten in Deutschland fast 89.000 Menschen mit dem HI-Virus. Davon wurden 54.000 Infektionen (73 %) auf sexuelle Kontakte zwischen Männern zurückgeführt. Wenn man die Berechnungen vom Robert-Koch-Institut und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2009 zugrunde legt, leben in Deutschland 600.000 MSM, allein 80.000 davon in Berlin10. Vergleicht man diese Zahlen mit HIV-Meldedaten, sind etwa 10 bis 12 Prozent der MSM in Ballungsräumen positiv. Bei Heterosexuellen sind es insgesamt lediglich 0,04 Prozent11.

Da etwa die Hälfte aller Schwulen und MSM in Städten mit über 500.000 Einwohnern leben12, steigt dort einerseits der Anteil an der Gesamtgesellschaft, aber auch der HIV-Positiven unter den MSM auf zehn Prozent oder mehr. Wenn man nun noch die durchschnittliche Anzahl der Sexualpartner*innen betrachtet, wird deutlich, wie enorm sich die Wahrscheinlichkeiten eines Sexualkontakts mit einer HIV-positiven Person unterscheiden.

Zur Veranschaulichung: Geht man mal von zehn Sexpartner*innen im Jahr aus, hat ein schwuler Mann in Berlin oder Hamburg statistisch mindestens einmal im Jahr Sex mit einem HIV-Positiven. Unter Heterosexuellen ist nur eine von 2.500 Personen HIV-infiziert, das entspräche für heterosexuelle Männer ein Sexkontakt mit einer HIV-positiven Frau alle 250 Jahre. Zusammen mit den Übertragungswahrscheinlichkeiten der jeweiligen Sexualpraktiken wird erkennbar, warum das Infektionsgeschehen bei Männern, die Sex mit Männern haben, so viel höher ist.

Diesem Umstand begegnete die Bundesregierung gemeinsam mit Aidshilfen und anderen Organisationen mit enormen Präventionsbemühungen und mit eindrucksvollem Erfolg. Das sexuelle Schutzverhalten von MSM ist seit vielen Jahren gleichbleibend auf einem sehr hohen Niveau. Es zeigt sich auch sehr eindrücklich in den Neuinfektionszahlen: seit 2012 sind diese von 2.200 um fast 30 Prozent auf 1.600 zurückgegangen11. Das gelang in einem guten Zusammenspiel aus Information, Bekämpfung der Stigmatisierung HIV-positiver Personen und den Weiterentwicklungen in der Prävention durch die Schutzwirkung der HIV-Therapie und der Prä-Expositionsprohyplaxe (PrEP). Das unterstreicht unübersehbar das Verantwortungsbewusstsein und Schutzverhalten von MSM. Angesichts solcher Zahlen weiterhin von „Risikoverhalten‟ zu sprechen, ist schlicht nicht nachvollziehbar.

Individuelles Risikoverhalten als Ausschlusskriterium

Zur Entscheidung über mögliche und notwendige Ausschlüsse dürfen allein beleg- und überprüfbare Daten und Kriterien herangezogen werden. Dies muss sich auch in der Argumentation zu den Ausschlusskriterien widerspiegeln. Individuelles Verhalten ist jedoch nie sicher überprüfbar.

Sexualität und insbesondere Homosexualität sind selbst heute oft noch schambesetzt. Auch nehmen sich nicht alle Männer, die auch sexuelle Kontakte zu anderen Männern haben, als schwul oder bisexuell wahr. Andere leben ungeoutet in heterosexuellen Beziehungen. Die familiäre, kulturelle, berufliche und soziale Umgebung spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob es Männern möglich ist, zu ihren sexuellen und emotionalen Bedürfnissen zu stehen. So ist nicht immer und nicht allen Männern ein Coming out möglich13. Diese und weitere Faktoren können deshalb dazu führen, dass selbst anonyme Fragen auf einem Blutspendefragebogen nicht immer wahrheitsgemäß beantwortet werden (können). Gerade dann nicht, wenn die Anonymität im Gespräch mit den Ärzt*innen vor der Spende ihr Ende findet und die Antworten gemeinsam durchgegangen werden. Insbesondere dann, wenn Menschen nicht allein zur Blutspende gehen, entsteht ein sozialer Druck, der sich auf die Beantwortung solcher Fragen auswirkt. Da es auf diese Art und Weise keine Anonymität bei der Blutspende gibt und geben kann, ist es somit nicht zielführend, die Sicherheit auf den persönlichen Angaben des Spenders im Fragebogen aufzubauen.

In puncto Monogamie müssten zudem zusätzlich auch die Partner*innen befragt werden, da nur jede Person für sich angeben kann, ob außerhalb der Beziehung(en) weitere sexuelle Kontakte stattgefunden haben. Immerhin gaben in einer repräsentativen Studie 15 Prozent der Frauen und 21 Prozent der Männer an, schon einmal fremdgegangen zu sein14.

Die Stigmatisierung von Sex als Risiko
Sexualität kann unter anderem durch die Ausschüttung von Glückshormonen die körperliche und psychische Gesundheit stärken. Von daher ist die „Bewertung sexueller Verhaltensweisen hinsichtlich der Infektionsgefährdung“ grundsätzlich problematisch. Grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Geborgenheit, Leidenschaft und Nähe werden in diesem Kontext in Gänze problematisiert.

Die Sexualität schwuler Männer und anderer Männer, die Sex mit Männern haben, grundsätzlich und in Gänze als „Risikoverhalten“ zu definieren5, beinhaltet eine moralische Wertung von Homosexualität und ist so schon diskriminierend.
Eine komplett „risikofreie“ Sexualität ist unrealistisch. Wo Menschen sich körperlich so nahekommen und sich in Leidenschaft begegnen, kann es auch zu Übertragung von Keimen kommen. Dies stärkt sogar das Immunsystem.

Ein Bild, das Sexualität immer wieder in Verbindung mit Krankheiten und Risiken setzt, enthält eine moralische Wertung von Sexualität. Sexualität und körperliche Nähe dürfen nicht einem Dogma unterworfen werden, das individuelle Bedürfnisse gesellschaftlichen Normen unterordnet. Eine solche Haltung ist realitätsfremd und im Grunde sexualitätsfeindlich. Wer Sex hat, wer sich küsst, kommt mit einer Vielzahl an Keimen in Kontakt15, stärkt so aber auch das Immunsystem. Somit ist es auch nicht unwahrscheinlich, im Laufe eines sexuell aktiven Lebens auch mit einer sexuell übertragbaren Infektion in Kontakt zu kommen16. Entscheidend ist dabei der Umgang mit Sexualität und Verantwortung. Geschlechtskrankheiten sind heute stark stigmatisiert, was dazu führt, dass nicht darüber gesprochen wird und Sexpartner*innen nicht darüber informiert werden. Damit kommt es immer weiter zu Übertragungen. Es ist bekannt, dass Scham und Angst vor Abwertung und Stigmatisierung dazu führen kann, sich weniger oder gar nicht auf HIV und STI testen zu lassen17. Sexualität darf nicht weiter problematisiert werden, wenn man die sexuelle Gesundheit der Menschen stärken und die Verbreitung von Infektionen reduzieren will.

Sexualverhalten ist demnach auch sprachlich deutlich von bewussten Gesundheitsgefährdungen wie zum Beispiel Rauchen oder Substanz- beziehungsweise Alkoholkonsum abzugrenzen. Zudem liegt das sexuelle (Selbst-)Schutzverhalten bei MSM schon über viele Jahre hinweg auf einem stabil hohen Niveau17: Ein deutlicher Beleg hierfür sind die bereits erwähnten seit 2012 um etwa 30 Prozent gefallenen Neuinfektionen mit HIV in dieser Gruppe11. Diese Entwicklungen sind meines Erachtens bisher noch nicht ausreichend in die Entscheidung über die Ausschlusskriterien eingeflossen.

„Risikoverhalten“ versus „Schutzverhalten“
Sowohl die Richtlinie zur Hämotherapie (2017), in welcher die konkreten Kriterien zur Blutspende festgelegt sind, als auch die beiden aktuellen Anträge sprechen von „Risikoverhalten“, definieren dieses aber ganz unterschiedlich. Die Richtlinie geht von einem grundsätzlich sehr hohen Infektionsrisiko mit HIV und anderen STI bei Sex unter Männern aus. Dort ist demnach ein kollektives Risikoverhalten definiert. Jeder sexuelle Kontakt zwischen Männern, egal welcher Art, stellt in dieser Definition undifferenziert und gleichermaßen ein Risiko dar. Die Begründung hierzu liegt in der statistischen Wahrscheinlichkeit einer Infektion innerhalb dieser Gruppe. Zu dieser Einschätzung wurden allerdings zum Teil Daten herangezogen, die schon in der vorangehenden Richtlinie von 2012 genutzt wurden und so bereits etwa zehn Jahre oder älter sind. Somit wurden in die Einschätzung weder die epidemiologischen noch medizinisch-therapeutischen und technischen Entwicklungen in der Zwischenzeit mit einbezogen.

In den aktuellen wie auch in vorherigen Anträgen wird hingegen das „Risikoverhalten“ nicht pauschal auf die Gruppe der MSM übertragen, sondern als ein individuelles Risikoverhalten derer definiert, die beispielsweise häufig wechselnde Sexualpartner haben oder ungeschützten Sex praktizieren. Auch in der Community wird häufig mit dem individuellen Sexualverhalten argumentiert. Hiermit geht die Argumentation aber aneinander vorbei, wenn einerseits kollektiv und andererseits individuell argumentiert wird. Das individuelle Verhalten Einzelner wirkt sich nicht signifikant auf das Kollektivverhalten aus, da das Kollektivverhalten bereits als ein durchschnittliches Verhalten definiert wurde.

Zudem ist das individuelle Verhalten nicht nachprüfbar und kann somit kein verlässliches Kriterium zur Sicherheitsbewertung sein. Ohnehin wäre es angemessener, von Schutzverhalten zu sprechen, da der Kondomgebrauch von MSM beim Analverkehr seit Jahren konstant hoch ist.

Aus diesen Gründen ist es nicht nachvollziehbar, dass insbesondere bei dieser Gruppe immer wieder von Risikoverhalten gesprochen wird, denn das Bewusstsein für Schutz und Verantwortung ist ausgesprochen hoch. Und es ist nicht weniger diskriminierend, wenn nun eine kleine Gruppe innerhalb der schwulen Community zum Sündenbock gemacht wird, weil sie sich nicht den gesellschaftlichen Normen wie Monogamie unterwirft. So wird eine Spaltung in „gute‟ und „schlechte‟ Schwule geschaffen und die Diskriminierung lediglich innerhalb der Community verschoben. Anstatt nach einer sachlich-inhaltlichen Lösung zu suchen, geht man den einfachen Weg über eine moralisch-wertende Scheinlösung.

Wissenschaftlichkeit und moralische Objektivität als Grundvoraussetzungen einer Debatte
Da individuelles Verhalten zwar die individuelle Wahrscheinlichkeit beeinflusst, aber nicht wesentlich die Gesamtstatistik, können individuelle Verhaltensfaktoren nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Damit sind Monogamie, die Nutzung von Kondomen, PrEP oder Schutz durch Therapie zwar dazu geeignet, den individuellen Schutz zu gestalten, kommen aber nicht als Kriterien für die grundsätzlichen Überlegungen in Betracht – auch weil sie im konkreten Fall nicht überprüfbar sind.

Die Argumente liegen daher im Bereich der Wissenschaft und der technischen Möglichkeiten, die Sicherheit von Blutprodukten zu gewährleisten. So sieht es im Übrigen auch das Transfusionsgesetz (TFG) vor18: Nach § 5 Absatz 3 TFG ist dafür zu sorgen, dass die Spenden „nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik“ untersucht werden, um die Sicherheit der Blutprodukte zu gewährleisten. Anhand moderner Testverfahren (NAT) mit direktem Erregernachweis kann heute eine HIV-Infektion nach 9,7 Tagen festgestellt werden5. Ein Ausschluss der Personen, die in den letzten zwei Wochen Analverkehr hatten, würde also eine ausreichende Sicherheit bieten.

Hierzu sind zwingend mehr Transparenz zur Praxis der angewandten Testverfahren und eindeutige gesetzliche Regelungen notwendig. Wo werden Blutspenden gemeinsam „gepoolt‟ getestet? Unter dem Begriff „Poolen‟ versteht man das gemeinsame Testen von 96 zusammengeführten Spendenproben. In diesem Verfahren kommt es also zu einer fast 100-fachen Verdünnung der Proben und Infektionen können so erst in späteren Stadien festgestellt werden. In einer Anordnung von 2012 schreibt das Paul-Ehrlich-Institut eine Mindestnachweisbarkeitsgrenze von 10.000 Viruskopien pro Milliliter Blut (IU/ml) für die Testverfahren der Spenden fest. Die Möglichkeit diese Grenze auf 1.000 zu senken und damit HIV-Infektionen früher feststellen zu können, wurde zwar diskutiert, aber verworfen19. Eine Begründung erfolgte nicht. Es ist daher für eine Neubewertung der Lage dringend erforderlich, dass Blutspendedienste gesetzlich dazu verpflichtet werden, ihre Testpraxis offenzulegen. Wir müssen die epidemiologischen Fakten und technischen Möglichkeiten immer wieder neu bewerten, anerkennen und danach argumentieren und handeln. Nur so können ein Maximum an Sicherheit und ein Minimum an Ausschluss und Diskriminierung erreicht werden.

Blutspendeknappheit und Gewinnmaximierung zulasten der Sicherheit
Immer wieder wird in Medien um Blutspenden geworben und die Angst vor Knappheit in Notfällen ist groß. Da ist es doch paradox, dass Blutspendedienste nicht selbst die technischen Möglichkeiten ausnutzen, um so viele Spender*innen wie möglich zu erreichen. Zumal Blutprodukte nicht nur im Rahmen von Operationen und Blutarmut eingesetzt werden, sondern auch bei einer Vielzahl von Erkrankungen zur Anwendung kommen.

Der Bedarf an Spenden ist insgesamt tatsächlich sehr hoch. Zwar können heute viele der aus Blutprodukten gewonnenen Medikamente, wie beispielsweise Gerinnungsfaktoren, gentechnisch hergestellt werden; diese sogenannten rekombinanten Blutgerinnungsfaktoren sind in der Herstellung jedoch extrem aufwändig und langwierig. Damit liegen die Preise beim Doppelten bis Vierfachen der aus Blutprodukten gewonnenen Faktoren.

Der größte deutsche Blutspendedienst listet auf seiner Webseite die Kosten der Beutelsysteme zur Spendenentnahme, der Materialien und sogar der Blutspendemobile sehr eindrucksvoll auf und verweist auch darauf, dass alle Einnahmen allein in die Finanzierung dieser Arbeit zurückfließen würden. Die Einnahmen aus dem Verkauf des Blutes und seiner Bestandteile werden hingegen verschwiegen.

Der Erlös pro Vollblutspende liegt bei etwa 135 Euro, nach Bestandteilen getrennt steigen die Erlöse rasch an und auch, wenn die Spenden beispielsweise in Kriegsgebiete oder an Pharmaunternehmen verkauft werden20. Die Verarbeitung von Blutspenden zu Medikamenten ist für alle Beteiligten also ein einträgliches Geschäft. Der gemeinnützige Blutspendedienst hat in Deutschland nahezu eine Monopolstellung und sammelt im Jahr 70 Prozent der etwa vier Millionen Vollblutspenden und dazu noch Plasma- und Thrombozyten-Spenden ein. Aus diesen Spenden werden allein dort jährlich Einnahmen von unglaublichen 500 Millionen Euro generiert. Sollte es also tatsächlich zu einer Knappheit von Blutkonserven kommen, die für dringende Operationen und andere Notfälle gebraucht werden, müsste nur kurzzeitig der Weiterverkauf reduziert werden. Das Testen im Pool trägt nicht zur Sicherheit der Spenden, dafür aber zur Gewinnmaximierung bei.

Die Einzeltestung der Blutspenden bietet die Möglichkeit, die Diskriminierung von MSM in der Blutspende zu beenden und die Rückstellung auf ein Minimum zu reduzieren, die Sicherheit der Spenden zu stärken und nachhaltiger und verantwortungsvoller mit der lebenswichtigen Ressource Blut umzugehen.

Nachweisbarkeit von HI-Viren im Blut
Bereits seit 1985 sind zur Garantierung der Sicherheit von Blutprodukten HIV-Antikörpertests bei Blutspenden vorgeschrieben. Da aber nicht direkt nach der Infektion Antikörper gebildet werden, waren die Ergebnisse dieser Tests lange erst nach drei Monaten aussagekräftig. Um Kosten und Aufwand möglichst gering zu halten, wurden die Proben zudem gepoolt getestet. Durch dieses Verfahren wurden Antikörperkonzentrationen verdünnt, was ein sicheres Ergebnis weiter verzögerte und dazu führte, dass Schwule und andere besonders betroffene Personengruppen in der oben genannten Definition von „Risikogruppen‟ grundsätzlich von der Spende ausgeschlossen wurden.

Das Testen der Spenden im 96er-Pool entspricht also eindeutig weder den technischen Möglichkeiten noch dem medizinischen Stand der Wissenschaft!

Zumal, wie bereits ausgeführt, 2012 eine Nachweisbarkeitsgrenze von 10.000 Viruskopien pro Milliliter Blut festgelegt wurde, obwohl auch 1.000 möglich gewesen wären, und dies auch diskutiert wurde. Schon hier wurden die technischen Möglichkeiten bei Weitem nicht ausgeschöpft – zugunsten einer diskriminierenden Praxis.

Heute können wir dank moderner, hochsensitiver Messtechnik HIV-Infektionen bereits sehr viel früher feststellen. Diese (PCR-)Tests weisen Bestandteile des Virus selbst nach und wurden im Laufe der Jahre immer sensitiver. Nach heutigem Stand können HIV-Infektionen schon ab 20 Viruskopien pro Milliliter Blut sicher festgestellt oder ausgeschlossen werden. Somit wird das sogenannte diagnostische Fenster auf nur noch knapp 12 Tage reduziert. Es wäre also denkbar, Spender*innen aus den bisher ausgeschlossenen Gruppen zuzulassen und die Spenden nach einer weiteren Testkontrolle nach zwei Wochen erst freizugeben.

Eine Ausschlussfrist von mehr als einem Monat nach dem letzten Analverkehr ist auf dem wissenschaftlich-technischen Stand heute nicht zu rechtfertigen!

F A Z I T

  1. Die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen zur Blutspende werden nicht ausreichend überprüft und es gibt keine Transparenz der Blutspendedienste über die Testpraxis, den Weiterverkauf und die Einnahmen der Spenden.
  2. Die Definition des natürlichen Sexualverhaltens schwuler Männer in diesem Kontext als pauschales „Risikoverhalten“ ist inhaltlich falsch und diskriminierend. Sie sollte deshalb nicht in politischen Forderungen übernommen werden.
  3. Eine Rückstellungsfrist zur Blutspende von mehr als einem Monat für alle sogenannten Risikogruppen ist wissenschaftlich nicht zu begründen.
  4. Die politischen Forderungen müssen auf die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen, die Schaffung von Transparenz und die Testung auf dem Stand der Wissenschaft und Technik abzielen.

Literatur

1 „Diskriminierung bei der Blutspende beenden – Transfusionsgesetz ändern“ (Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/19497, 26. Mai 2020
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/194/1919497.pdf

2 „Einfach Leben retten – Blutspendeverbot für homosexuelle und transgeschlechtliche Menschen abschaffen“ (Fraktion der FDP)
Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/15260, 15. November 2019
https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/152/1915260.pdf

3 „Zweite Beschlußempfehlung und Schlußbericht des 3. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes“
Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/8591, 25. Oktober 1994
https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/12/085/1208591.pdf

4 „Die Geschichte des Blut-AIDS-Skandals in Deutschland“ Interessensgemeinschaft Hämophiler, 2000

5 „Blutspende von Personen mit sexuellem Risikoverhalten – Darstellung des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft“ Stand 22.07.2016, Arbeitskreis „Richtlinien Hämotherapie nach §§12a und 18 TFG“, Bundesärztekammer, Robert-Koch-Institut, Paul-Ehrlich-Institut,
Bundesministerium für Gesundheit

6 „Safer Sex 3.0“, ICH WEISS WAS ICH TU,
Deutsche Aidshilfe, abgerufen am 3. August 2020
https://www.iwwit.de/safer-sex?pk_campaign=ads&pk_kwd=safe%20sex

7 Rodger, Cambiano, Bruun, Vernazza et al. „Risk of HIV transmission through condomless sex in serodifferent gay couples with the HIV-posiGve partner taking suppressive antiretroviral therapy (PARTNER): final results of a multicentre, prospective, observational study“,
The Lancet 2019; 393: 2428-38

8 „Estimating per-act HIV transmission risk: a systematic review“,
AIDS 2014, 28:1509-1519

9 „Comparison of female to male and male to female transmission of HIV in 563 stable couples. European Study Group on Heterosexual Transmission of HIV“, BMJ 1992, 28;304(6830):809-13

10 Schmidt, Hamouda, et al, „Estimating the regional distribution of men who have sex with men (MSM) based on Internet Surveys“
BMC Public Health 9, 180, 2009

11 „Epidemiologisches Bulletin 46/2019“,
Robert-Koch-Institut 2019

12 „ROMEO PrEP Survey, 2018“, abgerufen am 29.07.2020,
https://www.planetromeo.com/en/care/prep-survey-results-2018/

13 „Out @ work Barometer“, Zawadzki, Sehnert, 2019

14 „Sexualverhalten in Deutschland“,
Deutsches Ärzteblatt 2017; 114:545-50

15 Kort, R., Caspers, M., van de Graaf, A. et al. „Shaping the oral microbiota through intimate kissing“, Microbiome 2, 41, 2014

16 „Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen (BIS 2030)“, Bundesministerium für Gesundheit, 2016

17 Drewes, Kruspe „Schwule Männer und HIV/Aids 2013“,
Deutsche Aidshilfe, 2016

 18 Transfusionsgesetz (TFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. August 2007 (BGBl. I S. 2169), zuletzt geändert am 19. Mai 2020 (BGBl. I S. 1018)

19 „Anordnung von Maßnahmen zur Risikominimierung beim Einsatz von HIV-1 NAT-Testsystemen“, Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (Paul-Ehrlich-Institut), 15. Juni 2012

20 „600 Millionen Euro auf der hohen Kante? Zweifel an der Gemeinnützigkeit des Roten Kreuzes“, FOCUS MONEY ONLINE, abgerufen am 24.07.2020 https://www.focus.de/7823110



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