Nach seinem Tod am 23. Oktober 2018 wurde Bernd Aretz am 15. Dezember auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg beigesetzt. Auf diesem historischen Friedhof mit vielen kulturhistorisch bedeutenden Gräbern, hat Bernd nun die „post-mortem-WG“ bezogen und befindet sich in allerbester Gesellschaft: Der Mitbegründer der Strukturellen Prävention und Vorstandskollege von Bernd bei der Deutschen Aidshilfe, Dr. Hans Peter Hauschild, liegt dort ebenso begraben, wie die Gebrüder Grimm.
Für den Vorstand der Deutschen Aidshilfe hielt Björn Beck eine kurze Rede, die Trauerrede hielt Professor Dr. Martin Dannecker, enger Freund und Wegbegleiter von Bernd Aretz. Beide Reden im Wortlaut:
„Lieber Kalle, liebe Schwester, liebe Familie, liebe Freunde von Bernd,im Namen des Vorstands, der Geschäftsführung und den Mitarbeitenden der Deutschen Aidshilfe darf ich Euch und Ihnen unsere tiefe Anteilnahme zum Tod von Bernd ausdrücken.
Viele hier werden Bernd länger kennen als ich, so werde ich mich auf einige Eckpunkte beschränken.Geboren im Juli 1948 konnte Bernd in diesem Jahr noch seinen 70. Geburtstag feiern.Nach seiner HIV-Diagnose im Jahr 1984 hätte er sich das wohl selbst nicht träumen lassen – bedeutete die Diagnose doch damals noch ein Todesurteil.
Er studierte in Bochum Rechtswissenschaften und kam 1974, mit 26 Jahren, nach Hessen, genauer gesagt nach Marburg. Dort hatte er seine erste Wirkungsstätte als Rechtsanwalt, wurde Fachanwalt für Sozialrecht und später auch Notar.
Er lernte die Region, die Stadt, die Menschen und die Männer näher kennen und lieben. Es war der Beginn einer tiefen Beziehung mit einer Region und einem Umfeld, dass ihn prägte und wo er schließlich tiefe Spuren hinterließ.
Bernd ließ sich von seiner HIV-Infektion nicht entmutigen, im Gegenteil, er ging offen damit um und wurde aktiv, sogar Aktivist – auch wenn das den Verlust von Klient*innen bedeutete.
1990 bis 92 also nur sechs Jahre nach seiner eigenen Infektion wurde er Vorstand der Deutschen Aidshilfe und ein weiteres Mal von 1994 bis 95. In den beiden Jahren dazwischen war er Vorstand der Frankfurter Aidshilfe und später dann auch viele Jahre der Aidshilfe in Offenbach.
Bis zur dessen Auflösung 2016 war er Mitglied des Nationalen Aids-Beirates und hat dort viele wichtige Impulse zur Verbesserung der Lebensbedingungen für HIV-Positive gegeben.
Bernd hatte etwas zu sagen und so hat er gesprochen, geschrieben und veröffentlicht, Menschen und Institutionen unnachgiebig zur Auseinandersetzung mit dem Thema getrieben, nahezu genötigt und so für die Selbstbestimmung von Menschen mit HIV und Aids gekämpft.
Bernd tat auch dies mit großer Leidenschaft.
Und wenn man Ziele vor Augen hat, kann es sein, dass man „Den Tod 15 Jahre überlebt“, wie der Titel einer Homestory über ihn aus dem Jahr 1999 lautete.
2010 wurde Bernd zur Anerkennung seines langjährigen Engagements die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Aidshilfe verliehen.Für sein publizistisches Werk wurde er 2017 mit dem Medienpreis der Deutschen Aids-Stiftung ausgezeichnet.
Ein Leben voller Leidenschaft und Aktivismus.
Vor meiner HIV-Diagnose kannte ich nur einige seiner Texte und hatte mal einer Lesung mit ihm zugehört. Irgendwie war er auf meine umfangreiche, vielleicht sogar etwas außer Kontrolle geratene Bembel-Sammlung aufmerksam geworden, er lud mich zu sich ein und schenkte mir zwei alte Bembel, die er loswerden wollte. Er erklärte mir, dass er schließlich niemandem zumuten könne, die Ansammlungen der verschiedensten Dinge in seiner Wohnung nach seinem Tod entsorgen zu müssen. Als ich mich in der Wohnung umsah, erkannte ich was Bernd meinte und ein wenig erinnerte mich das auch an meine Wohnung.
Wir zwei Sammler hatten also sofort einen Draht zueinander, teilten die Vorliebe für klare Worte, Apfelwein, und was dem Leben Lust und Freude gibt. Genussmenschen, wie man so schön sagt.
Regelmäßig saßen wir zusammen, tranken guten Apfelwein und sprachen miteinander – einen großen Anteil dessen über Männer, Lust und Sex. Und bald wurde Bernd ein wichtiger Mentor und Freund.
Eine Freundschaft mit einem Abschiedsgeschenk zu beginnen, schien mir irgendwann für diesen Kontext passend zu sein, wusste man ja nie, wieviel gemeinsame Zeit einander noch geschenkt wurde.
Aus einer ganz anderen Generation Positiver stammend, hätte ich niemals gedacht, einmal eine Rede für einen verstorbenen Freund zu halten, der – vielleicht, oder vielleicht auch nicht – an den Folgen der Infektion verstorben ist. Mir gefällt vielmehr der Gedanke, dass er an den Folgen des Lebens verstarb. Einem Leben, dass er selbstbestimmt und autonom geführt hat – bewusst, lustvoll, berauscht und in vollen Zügen genoss.
Und so fühle ich mich nun ein wenig in die Zeit des Sterbens zurückversetzt und ich erkenne, wie sehr das alles bis heute wirkt.
Bernd störten vor allem die Einschränkungen der Sexualität durch Aids, die Angst und die Pariser.So schrieb er 1992:„Ich finde, Pariser stören. Sie erinnern mich daran, weswegen ich sie benutze.“
Es gab noch keine Kombinationstherapie, das Dilemma blieb und er klagte:„Natürlich finde ich bei rauschhafter Sexualität, bei der ich mich im anderen auflöse und es auch ihm erlaube, AIDS und Vorsicht äußerst störend.“ „äußerst störend“ dürfte eine ziemliche Untertreibung gewesen sein.
Wie tief die Angst und das Trauma von AIDS ging, spüren wir noch heute.Bernd hat mir geholfen, dass ich die Infektion heute nicht mehr als sonderlich störend empfinde – im Gegenteil, tatsächlich hat sie meine Sexualität von der Angst befreit.
Bis zu meiner eigenen Infektion und der Therapie war HIV immer mit im Bett und störte die Leichtigkeit der Lust – so kann ich das „äußerst störend“ durchaus bestätigen.
Bernd ließ nicht zu, dass die Infektion sein Leben bestimmte. Er ließ auch nicht zu, dass Normen und Vorschriften seine Sexualität reglementierten. Er hat Freiräume erkämpft, ohne die das Leben mit HIV heute nicht so frei und unbeschwert wäre.
Sein Mann Kalle schrieb in der Traueranzeige: „Du hast das Leben vieler Menschen reich beschenkt“. Ja, Bernds Leben und Handeln wirken nach. Er hat uns erkämpft und geschenkt, was ihm so wichtig war: die Freiheit zur Selbstbestimmung und damit auch wieder Freiheit der Lust.
Mir hat er Einblicke geschenkt, AIDS besser zu verstehen, er hat mir den Mut gemacht, HIV anzunehmen, mein Leben damit selbst zu gestalten, aktiv zu werden und er hat mich darin bestärkt, mich von Konventionen und Normen nicht in meiner Freiheit einschränken zu lassen. Ohne seinen Zuspruch wäre ich heute nicht Vorstand der Deutschen Aidshilfe – ich hätte schlicht den Mut nicht gehabt.
Lieber Bernd, ohne Dich stünde ich heute nicht hier. Dein Vermächtnis ist mir ein Auftrag und deine Freundschaft eine Ehre.
Du hast unser Leben reicht beschenkt, mit deinem intellektuellen Wirken, aber auch mit jeder Begegnung. Vielen Dank!“ (Björn Beck)
„Ende Juli hat mich Bernd in einer Mail gefragt, ob ich auf der von ihm akribisch geplanten Trauerfeier in Berlin etwas erzählen möchte, was ihm, könnte er es noch hören, Freude bereiten würde. Wenige Tage später habe ich ihm geschrieben: „Ich kann zwar nicht sagen, dass ich Deinem Wunsch, gerne nachkomme. Denn der Gedanke, dass Du dann nicht mehr unter uns sein wirst, schmerzt mich. Gleichwohl will ich es im Gedenken an unsere lange Freundschaft tun. Ich hoffe, dass ich dabei nicht die Fassung verliere, denn ich weiß, dass Dir das nicht gefallen würde.“
Als ich mir Gedanken machte, was ich über Bernd erzählen und worüber ich sprechen könnte, wurde ich zunehmend ratlos. Das Leben hat in Bernd ja viele Talente entfaltet. Neben seinem Brotberuf als Rechtswalt und Notar war er Performer, Fotograf, öffentlich Lesender auch zu Unrecht vergessener Texte und Geschichtserzähler. Vor allem aber war er ein produktiver Autor und Erfinder eines Genres, das ich Freundschaftsbücher nennen möchte.
Woran also anknüpfen? Vielleicht doch an seine Texte über Aids? Aber an welche von den zahlreichen?
Um meinem Dilemma ein Ende zu bereiten, habe ich Bernd angerufen und ihn gebeten, zwei, drei Texte für mich auszuwählen. Geschickt hat er mir am 30.9. dann folgende:
1. Glanz und Elend der Begleitung
2. Wertequartett. Lästerliche Bemerkungen eines schwulen infizierten Mannes und
3. Tagebuchnotate, die von Anfang 2014 bis 2017 reichen.
Während dieses Telefongespräch haben wir übrigens ausgesprochen, was wir schon lange voneinander wussten, nämlich, dass wir uns auf eine besondere Weise lieben. Dass wir uns damit so lange Zeit ließen, hat seinen Grund wohl darin, dass wir beide meinten, mit dem Wort Liebe sparsam umgehen zu müssen, weil der inzwischen übliche inflationäre Gebrauch dieses Wortes, dem, was das Wort bezeichnet, seine tiefere Bedeutung nimmt. Leicht vergessen wird darüber nämlich, dass der Satz „Ich liebe Dich“ im Grunde ein ungeheuerlicher Satz ist, wie Hubert Fichte, ein auch von Bernd geschätzter Literat, in dem Roman Versuch über die Pubertät, schrieb. Denn dieser Satz verpflichtet sowohl diejenigen, die ihn sagen, als auch diejenigen, an die er gerichtet wird.
Doch zurück zu den von Bernd ausgewählten Texten. Es handelt sich dabei um einen autobiographischen Essay über die, als Haus 68 bekannte Frankfurter Aids-Station , einen Text mit Einsprüchen gegen die unter Positiven und ihren Bewegungen kursierenden Ansichten und falschen Gewissheiten und, wie gesagt, um Tagebuchnotizen.
Nicht nur in diesen Texten, sondern auch in vielen anderen, die Bernd über HIV und AIDS geschrieben hat, stehen das Ich eines infizierten schwulen Mannes und dessen Gefühle ganz im Mittelpunkt. Von diesem Ich aus wird die es umgebende Welt in Augenschein genommen und beurteilt. Wegen dieser Selbstbezüglichkeit kann man die Texte, die Bernd zu Aids vorgelegt hat, mit einigem Recht als solipsistisch bezeichnen. Dieser Solipsismus sollte jedoch nicht mit Narzissmus verwechselt werden. Bernds Texten fehlt alles, was narzisstisch grundierte Texte charakterisiert. Sie sind weder bis zur Unverständlichkeit aufgeblasen, noch protzen sie mit der Bildung ihres Autors. Und sie schielen auch nicht auf den Beifall der Leser und Leserinnen. Auch findet sich in seinen Texten keine Spur von Herablassung. Durchzogen sind sie freilich von Ironie. Sie war für ihn ein Mittel, auch da noch freundlich sein zu können, wo ihm das von der Sache her schwerfiel.
Die Rhetorik seiner Texte ist unverkennbar an die Sprachspiele vor Gericht angelehnt: Die eine Seite trägt etwas vor, behauptet etwas, um das, was unter Juristen Sachverhalt genannt wird, zu untermauern. Die andere Seite – und das ist die Seite von Bernd -, hört sich das äußerlich gelassen an und formuliert dann ihre Einsprüche.
Im dem Text Wertequartett gibt es dafür mehrere schöne Beispiele, von denen ich drei zitieren möchte:
„Aids ist das Schlimmste, das mir widerfahren konnte.“ Wirklich? Wie wäre es mit ein bisschen Hungersnot, … Krebs; oder wäre angenehmer eine Querschnittslähmung aufgrund eines Unfalls, Mukoviszidose? Ja, Aids ist schlimm. Trotzdem bleibt die Feststellung, dass der Menschheit individuell und kollektiv auch ganz andere Leiden drohen.“
Oder „Wir brauchen Forschung zu Longterm surviving!“ Wirklich? Auf der biochemischen Ebene stellen sich da sicher interessante Fragen, aber ist die Frage der Lebensführung wirklich abhängig von Forschungsergebnissen, ist die Zeitdauer ein Maßstab für geglücktes Leben?“
Oder als ein Beispiel für seine Ironie:
„Positivenkonferenz Stuttgart, Workshop „Longterm survivors“. „Du mußt Haschisch rauchen! AZT gegen Strohhalmwurzelextrakt, gegen „Jeder muss seinen Weg finden.“ Wie wahr! Wie wahr! Wer sollte es sonst auch tun?“
Diese Rhetorik setzte Bernd auch auf Veranstaltungen ein. Immer dann, wenn sich unter Positiven scheinbare Gewissheiten oder normativ klingende Vorstellungen über das richtige Leben abzeichneten, begann Bernd zu fragen, was es mit diesen auf sich hat und was diese für Folgen haben könnten. Vor allem aber hat Bernd seine Leidensgenossinnen und – genossen immer wieder angehalten, HIV und AIDS nicht zu hoch zu hängen. Das war für viele eine Zumutung, ja fast eine Ungeheuerlichkeit. Dabei hat Bernd das Leiden nie kleingeredet. Und er hat die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, welche „ein Leben mit der Krankheit in Würde“ verhindern, scharf kritisiert und bekämpft.
Immer hat Bernd darauf beharrt, dass auch ein positiver schwuler Mann, oder ein schwuler Mann mit Aids, sexuelle Lust und Glück erleben kann. Und das lange vor HIV zu dem wurde, was es jetzt ist. Diese Vorstellung wollte er sich von niemandem abmarkten lassen. Der Privatdruck, den Bernd unserer post mortem WG gewidmet hat, in die er heute als erster einzieht, enthält auch einige Miszellen, in denen er über seine sexuellen Erlebnisse berichtet.
Unbedarften Leser könnten diese Stücke wegen ihrer Offenheit für exhibitionistisch halten. Angemessen verstanden werden können diese Stücke jedoch nur, wenn sie als Ansätze einer ars erotica gelesen werden. Geht es in ihnen doch um das Erleben von Lust und die Intensivierung von Lust. Und es geht in ihnen um das über Erfahrung weitergegebene Wissen von Lust.
In der Antike war es der erfahrene Meister, der dieses Wissen an seinen Schüler weitergab. Bernd entfaltet seine ars erotica im Rahmen eines etwas anderen Machtverhältnisses, nämlich dem zwischen Sklave und Master. Das ist, weil lebensgeschichtlich aufgeladen, natürlich naheliegend.
Vielleicht ist Euch nicht entgangen, dass ich gerade den Sklaven und nicht den Master an erster Stelle genannt habe. Das ist unüblich und in etwa so verwirrend, wie wenn man von Knecht und Herr und nicht von Herr und Knecht sprechen würde. Ausdrücken wollte ich mit dieser Reihung, dass der Master vom Sklaven sexuell ebenso so viel lernt, wie der Sklave vom Master. Das scheint auch bei Bernd auf. Aber er geht noch einen Schritt weiter: So paradox das auch klingen mag: Ich glaube Bernd hat sich, trotz der äußerlich markierten Machtunterschiede, die es für eine gelingende SM-Beziehung nun einmal braucht, das Verhältnis zwischen Master und Sklave als ein im Grunde egalitäres gedacht.
Dass Bernd mit seinen sexuellen Miszellen tatsächlich ein ars erotica und keine Sexualpädagogik für SMLer im Sinn hatte, zeigt sich daran, dass er nicht auf Sprache im alltäglichen Sinne setzt. Im Gegensatz zu dieser hält Bernd Sprache für ein untaugliches Medium um sexuelle Gefühlswirklichkeiten zu vermitteln. Für ihn sind vielmehr der Körper, oder genauer gesagt, die Ausdrucksweisen des sexuellen Körpers der Schlüssel zu einer lustvollen Sexualität.
Um das zu verdeutlichen muss er ganz konkret werden. Und er fragt sich, was ihm das berührte Loch, die angefasste Brustwarze, der geleckte Zeh über die empfundene sexuelle Erregung und die gewünschte Lust sagen. Auf den erigierten Schwanz sollte man sich dabei keineswegs verlassen. Und ihn braucht es für die Lust auch nicht unbedingt. „Die Sichtweise“, so schreibt er in dem Privatdruck, und ich glaube er hätte nichts dagegen gehabt, dass ich aus ihm zitiere, … die Sichtweise … „Sexualität definiere sich nur über Steckverbindungen, ist mir zu dürftig. Es ist zwar bisweilen durchaus erfüllend, wenn auch diese Möglichkeit besteht. Aber muss ich, falls dies nicht geht, gleich alle anderen Möglichkeiten mit über Bord werfen? Sind die schwulen Männer wirklich so bedürfnis- und fantasielos?“
Man kann das, was Bernd in seiner ars erotica vorschlägt, Sexualforschung mit dem eigenen Körper und dem Körper des Anderen nennen und läge damit wohl nicht ganz falsch. Aber das ist zu abstrakt und auch nicht die ganze Wahrheit. Bernd, der Selbstmystifikationen für nicht weniger fatal hielt, wie alle anderen Mystifikationen, legt mit seinen sexuellen Miszellen nämlich genau genommen eine ars erotica für die von HIV oder Aids beeinträchtigten Körper vor. Das hört sich bei ihm freilich sehr viel prosaischer an. Aber genau darum geht es ihm. „Wenn“, so schreibt er, „der Verlust der Erektionsfähigkeit damit beantwortet wird, man wolle ja eigentlich nicht die böse Sexualität, sondern Kuscheln, dann ist mir das zu wenig. Ich finde es spannender, gelassen zu schauen, was man aus den Resten denn noch so machen kann.“
Das ist atemberaubend realistisch: Gelassen zu schauen, was man aus den Resten noch machen kann! Aber es ist keineswegs resignativ, weil die Anerkennung der Realität nicht in eine Unterwerfung unter sie mündet. Die realistische Einschätzung der verbliebenen sexuellen Möglichkeiten, ist vielmehr die Voraussetzung, um aus ihnen neues sexuelles Feuer zu schlagen. Das gelingt allerdings nur, wenn man als Mann in der Lage ist, den ganzen Körper als sexuelles Organ zu besetzen und nicht nur den scheinbar für die männliche Lust so bedeutsamen Penis.
Ich glaube nicht, dass Bernd die Absicht hatte, mit seinen Berichten über die Sexualität eines infizierten Mannes Trost zu spenden. Ihm hätte wahrscheinlich schon das Wort missfallen, weil es zu religiös tingiert ist. Aber er hat am Beispiel seines eigenen Lebens und dem seiner schwer erkrankten Freunde, aus den Zeiten als Aids noch mit Sterben verlötet war, nachgewiesen, dass man auch als Kranker sexuelle Lust und sexuelles Glück im vollgültigen Sinne erleben kann. Und mancher, der sich eher aus Mitleid zu einem kranken Freund ins Bett legte, hat, wie Bernd in mehreren anrührenden Szenen schildert, dabei überrascht erfahren, wie lustvoll eine aus Mitleid entstandene Sexualität sein kann.
Das ist so human, dass es fast schmerzt.
Bernds Texte, aber auch sein Auftreten in Gruppen verdanken ihre Wirkung nicht zuletzt der Nüchternheit seines Sprechens über AIDS und HIV und seiner Fähigkeit seinen unmittelbaren Erfahrungen durch ihre lakonische Darstellung das falsche Pathos zu nehmen. Mich hat Bernds Lakonismus immer fasziniert, weil es ihm mit diesem gelang, so nahe wie möglich an HIV und AIDS zu rücken und gleichzeitig ein gewisses Maß an Distanz zu wahren. Denkt man diesen Lakonismus noch mit seinem Lächeln zusammen, das auf mich immer wirkte, als ob es von sehr weit her käme, erschließt sich auch die Figur der bürgerlich autonomen Tunte, als die sich Bernd sah. Man muss sich eine Tunte mit diesen Prädikaten als einen freien Menschen vorstellen. Das zeigte sich auch ganz zuletzt in seiner Entscheidung mit der nächsten gesundheitlichen Krise das Ende kommen zu lassen.
Er sei, so schrieb Bernd mir und anderen, mit seinem Leben im Reinen. Daran habe ich deshalb keine Sekunde gezweifelt, weil ich wusste, dass er gute Gründe hatte, mit seinem Leben im Reinen zu sein. Einer dieser guten Gründe hat einen Namen, den ihr alle kennt. Mit diesem Namen möchte ich mein Erzählen über Bernd beenden, obwohl ich, den Namen von Kalle nennend, eigentlich noch einmal von vorne beginnen müsste. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte über Bernd als die von mir entlang seiner Texte aufgegriffene.
Es wäre schön mein alter Freund, wenn Dir diese Geschichte, hättest Du sie hören können, etwas Freude gemacht hätte. Aber Antworten wirst Du mir nicht mehr geben. Mir werden diese für den Rest meiner Tage fehlen.“ (Prof. Dr. Martin Dannecker)